Das war ein Impuls, mich um
die alten guten Verbindungen neu zu kümmern. Landesjugendpastor
- was war denn das? Das hatte ich noch nie gehört. Er war da,
ein junger unauffälliger Mann: Pastor Wellingerhof. Sein Stil
war ganz anders, als wir ihn bisher gewohnt waren. Da wurden
Choräle, aber auch Wandervogel-Lieder gesungen; es wurde
gespielt und erzählt. Im Zentrum stand die Bibelarbeit, wie er
es nannte, an der wir im Gespräch beteiligt waren.
Es machte vom ersten
Augenblick an Spaß. Friedrich Franz Wellingerhof war damals
gerade 30 Jahre alt. Er hatte noch vor dem Krieg begonnen,
Theologie zu studieren und es fertiggebracht, als Soldat seine
theologischen Examina zu absolvieren. Nach der Rückkehr in seine
mecklenburgische Heimatkirche gab es für ihn zunächst keine
Dienstwohnung. Er wohnte in einem nicht besonders großen Zimmer
zur Untermiete. Dorthin lud er uns nun wöchentlich einmal ein
und wir gingen mit immer größerer Freude zu ihm. Schnell hatte
Peter Heidrich einen Kosenamen für unseren neuen Pastor bereit:
PW. Bald genügte es uns nicht mehr, nur einmal in der Woche
zusammenzukommen. Unsere Initiative zu weiteren Treffen nutzte
dieser in der Jungenarbeit großgewordene Mann geschickt dafür,
uns selbst zu aktivieren. Damit begann für mich ein völlig neuer
Lebensabschnitt, der von der Jugendarbeit und PW - oder sollte
ich es besser umgekehrt sagen? - bestimmt war.
Sehr bald wußte uns PW, wie
wir ihn alle mit Respekt und Liebe nannten, für eine neue
Aufgabe zu begeistern: Verkündigungsspiele. Es waren Laienspiele
mit einer klaren biblischen Botschaft oder in Spielszenen
gebrachte biblische Geschichten. Hier war ich in meinem Element.
Begeistert gingen wir immer neu an die Arbeit. Kaum war ein
Spiel erarbeitet und der Gemeinde gezeigt, wurde schon wieder
das nächste geplant und geprobt. Wellingerhof wußte aus seiner
Erfahrung, die er immer weiter vervollkommnete, daß meditative
Pausen für den Zuschauer und die Gemeindeglieder wichtig sind
und bettete die Spiele in Chorsätze ein, wobei die Sänger
zugleich als Hintergrund das Spielfeld in den Kirchen und auf
den Bühnen eingrenzten. Der Chor eröffnete zudem die
Möglichkeit, viele Jüngere zu beteiligen.
In den drei Jahren von 1947
bis 1949 haben wir erstaunlich viele Verkündigungsspiele
erarbeitet und den Gemeinden gezeigt. Schon 1947 übten wir ein
Spiel, in dem es um das Bekennen des Glaubens, das große Thema
der Jugendarbeit in jenen Jahren, ging: "Ein Christ wird
gesucht." Die Handlung spielte im alten Römischen Reich zu
Zeiten der Christenverfolgung unter Kaiser Nero, aber Adressat
war natürlich die Gemeinde von heute. Ein erster Höhepunkt war
im Juni 1948 bei der 700-Jahrfeier des Schweriner Doms "Das
Spiel vom Antichristen." Vom Theater hatten wir sogar Kostüme
bekommen. Wer zur Jungen Gemeinde gehörte, war hier beteiligt.
Ich hatte die Rolle des Antichristen zu spielen, lange Texte
waren zu spielen und auf dem Domhof überlaut zu sprechen. Der
Inhalt des Spieles hatte uns in seinen Bann geschlagen. Daß ein
fiktiver Weltenherrscher alles Maß verliert und sogar gegen die
Kirchen und den Glauben mit Gewalt vorgeht, war in jenen Tagen
keine ferne apokalyptische Vision und keine historische
Reminiszenz, sondern unter der Herrschaft Stalins eine hautnahe
Befürchtung, für die es genug alarmierende Signale gab.
Immer größere Aufgaben
packte PW mit uns an. "Das Apostelspiel" von Max Mell wurde
eingeübt, keine ganz leichte Aufgabe, eigentlich schon für
Erwachsene bestimmt. Zu Weihnachten 1948 waren wir mit dem
"Worpsweder Hirtenspiel" von Manfred Hausmann beschäftigt. Zum
Höhepunkt unserer Verkündigungsspiele wurde im Frühjahr 1949 das
Drama in drei Akten von Karl Schönherr "Glaube und Heimat". Hier
spielte PW selbst mit, auf Chöre wurde verzichtet, weil das
Drama seine eigenen Gesetze hatte. Es ging um die Vertreibung
der Salzburger aus ihrer Heimat, weil sie ihrem evangelischen
Glauben treu bleiben wollten. Daß Glaube Widerspruch von den
Mächtigen erfährt und nicht ohne Opfer gelebt werden kann, war
eine deutliche Botschaft an die Zuhörer.
Längst hatte ich die
Schülerbühne ganz und gar verlassen. Der Stil der
Verkündigungsspiele hatte mich der Arbeit dort entfremdet. Aber
vor allem behagte mir die Theateratmosphäre, die sich dort immer
stärker ausbreitete, nicht mehr. Trotzdem blicke ich auf die
Jahre in der Schülerbühne gerne zurück. Ich habe dort gelernt,
Lampenfieber zu beherrschen und mich ganz einem Text und einer
Aufgabe im Spiel hinzugeben. Daß Konzentration Freiheit
bedeutet, ist mir eine große bedeutungsvolle Erfahrung geworden.
Im Laufe meines Dienstes habe ich später nie ernsthaft mit
Lampenfieber zu kämpfen gehabt, weil ich mein Rezept dagegen
kannte und einzusetzen wußte: Konzentration und Meditation. Bei
den Verkündigungsspielen wurde diese Haltung durch das Gebet,
mit dem wir jedes Spiel begannen, und durch die Choräle, die
betend das ganze Stück durchzogen, in eine letzte Tiefe geführt.
Mit Freude und Dank blicke ich auf diese Theater-Spiel-Phase
meines Lebens zurück. Gottes gute Führung hat mich auch hier für
den kommenden Dienst zugerüstet.
Aber zurück zum Herbst 1947.
Damals lud der neue Landesjugendpastor junge Männer, die
beabsichtigten, in den kirchlichen Dienst zu treten, aus allen
Gemeinden der Landeskirche in das Pfarrhaus nach Dobbertin zu
einer Rüstzeit ein. Daraus entstand die "Dobbertiner
Bruderschaft", die für die mecklenburgische Landeskirche zu
einem Segen geworden ist. Innerhalb weniger Jahre gingen aus ihr
mehr als vierzig junge mecklenburgische Pastoren und Diakone
hervor.
Während eines Spazierganges
zwischen dem Pfarrhaus und dem Klosterbezirk in Dobbertin mit
seiner Kirche faßte ich mir ein Herz und ging auf PW zu, um die
für mich damals wichtigste Frage zu besprechen: Sollte ich nun
wirklich Pastor werden? Daß ich mich für den Verkündigungsdienst
verantwortlich wissen würde, war mir klar. Aber sollte das auch
bedeuten, den Beruf eines Pastors zu ergreifen? Mußte man nicht
erwarten, daß die kommunistische Gesellschaft, auf die man in
der sowjetischen Besatzungszone mehr und mehr orientiert war,
mit ihrem Atheismus gegen die Kirche Front machen würde. Gingen
wir nicht wieder urchristlichen Zeiten entgegen, wo man mit
Verfolgungen der Kirche rechnen mußte? War es da nicht
vernünftiger, außerhalb der Kirche seinen Beruf zu haben und in
seiner Freizeit alle Kraft für das Evangelium einzusetzen? Die
ökonomische und rechtliche Basis der Kirche erschien mir damals
- erst recht für die Zukunft - als sehr schwach. Auch die Eltern
stellten sich und mir solche Fragen, denen ich nicht ausweichen
wollte, die ich aber selbst nicht endgültig beantworten konnte.
PW hörte sich alles sehr ruhig und verständnisvoll an. Er
versuchte nicht, die Bedenken zu zerstreuen. Aber er verwies auf
die Verheißungen Gottes, der noch nie einen Menschen, der sich
ganz auf ihn verläßt, aus seiner Fürsorge habe fallen lassen.
Schlicht sprach er von der Hoffnung des Glaubens, daß Gott
seiner Kirche unterwegs in die Zukunft - wie immer sie aussehen
werde - treu bleiben werde. Das war für mich überzeugend und
befreiend zugleich. Von dieser Stunde stand für mich endgültig
fest: Du wirst Pastor. Die "vocatio interna", für die Theologen
eine wichtige Voraussetzung für die Berufung zum kirchlichen
Dienst als Pastor, wurde hier zur letzten Gewißheit. Meine
Freude darüber war groß und ist es bis heute geblieben. PW hat
recht gehabt. Gott hatte in den kommenden Jahren einen großen
und aufregenden Weg für seine Kirche bereit. Immer hat er für
seine Leute gesorgt und sie nie im Stich gelassen.
In jenen Jahren blühte die
kirchliche Jugendarbeit überall. Schwerin war keineswegs eine
Ausnahme. Mehr als 100 Jungenkreise gab es 1948 allein in
Mecklenburg; dazu kamen die Mädchenkreise in vielen Gemeinden
und einige gemischte Kreise. Die Jugendarbeit bestimmte neben -
oder besser: vor - der Schule in vielfältiger Weise auch mein
Leben. Bald hatte uns PW angeleitet, eigene Jungenkreise zu
sammeln und zu leiten. Die tägliche Bibellese legte er uns so
ans Herz, daß viele von uns sich fest daran hielten. Diese
persönliche Bindung an die Schrift und das Gebet waren uns
wichtige Hilfen auf dem täglichen Weg. Was bedeuteten
demgegenüber die täglichen Belastungen?!
Die jungen Leute aus den
kirchlichen Jugendkreisen in den sonntäglichen Gottesdienst der
Gemeinden zu integrieren, war schon in jenen Jahren ein Problem.
Um so wichtiger wurde ein Gottesdienst, den die Jungen Gemeinden
in den einzelnen Orten gemeinsam hielten: die Monatsrüsten, die
damals ihren Anfang nahmen. In Schwerin trafen sich am 1. jeden
Monats gegen Abend alle Jugendkreise im Hohen Chor des Domes zu
diesem Gottesdienst. Man stand in weitem Halbkreis um den
Hochaltar herum, Jungen und Mädchen natürlich sorgsam getrennt.
Der neue Monatsspruch wurde ausgelegt, das Monatslied eingeübt
und gesungen. Die liturgische Ordnung war sehr einfach, aber die
Anziehungskraft der Monatsrüsten überall erstaunlich. Hier wurde
der starke geistliche Impuls der Jugendarbeit in jenen Jahren
besonders deutlich. Bald genügte uns die monatliche Andacht
nicht mehr, und wir verabredeten auf eigene Faust, uns an den
Wochentagen morgens vor Beginn der Schule rings um den Hochaltar
des Doms zu einer Morgenandacht, der Morgenwache zu treffen, die
abwechselnd von uns selbst gehalten wurde. Sie dauerte noch
keine 15 Minuten, aber wir gingen gemeinsam unter Gottes Wort in
den Tag und in die Schule.
In den Monatsrüsten wurde
das Zeichen der Jungen Gemeinde, das Kreuz auf der Weltkugel, an
Konfirmierte verliehen, die treu in ihrem Jugendkreis
mitarbeiteten und bereit waren, dieses Bekenntniszeichen zu
tragen. Um dieses Zeichen gab es bald allerlei
Auseinandersetzungen, weil es von politischer Seite als
Mitgliedszeichen einer verbotenen Organisation angegriffen
wurde. Es machte viel Mühe, dieses Mißverständnis auszuräumen
und den Charakter des Bekenntniszeichens zu betonen. Dieses
Zeichen war für viele junge Christen damals eine große Freude
und eine Hilfe, ihren Glauben zu bekennen. Widerspruch gegen den
Glauben gehörte in jenen Tagen, in denen der
historisch-dialektische Materialismus allerorten propagiert und
studiert wurde, bereits zum Alltag. Es gab aber noch Versuche,
auch öffentlich einem atheistischen Denken zu widersprechen.
Pastor Aurel von Jüchen
hatte als Verantwortlicher für den Schweriner Kulturbund ein
"Jugendforum" ins Leben gerufen, auf dessen Veranstaltungen auch
um das Thema Atheismus gerungen wurde. Wir junge Christen
beteiligten uns tapfer daran, waren aber wissensmäßig und
methodisch der Aufgabe bald nicht mehr gewachsen. Zu unserer
Freude kam PW uns zur Hilfe, der rhetorisch gewandt und stark
polemisch dort die apologetischen Thesen der Kirche vertrat. Daß
Aurel von Jüchen bald nach der Gründung der DDR verhaftet wurde,
hat uns damals sehr bewegt. Es hing zweifellos mit seinem
Versuch zusammen, in den Jugendforen ehrliche Gespräche und
ernsthafte Auseinandersetzung im demokratischen Geist zu
ermöglichen. Jahrelang war er - ohne daß man von ihm irgendetwas
wußte - in sowjetischen Lagern, bis er endlich 1955 nach dem
Adenauer-Besuch in Moskau entlassen wurde und danach als kranker
Mann in West-Berlin lebte. Auch mit der Verhaftung von Pastor
Lic. Lansemann aus Wismar, der uns auf einer Kühlungsborner
Rüstzeit ein guter Freund geworden war, legte sich ein tiefer
Schatten über uns. So war der Alltag - jedermann konnte
jederzeit ohne jede Spur verschwinden. Lansemann war Diabetiker
und ist schon bald nach seiner Verhaftung aus Mangel an Insulin
gestorben.
Große Freude bereiteten in
der Jugendarbeit jener Jahre die Rüstzeiten. Wie primitiv begann
es. Natürlich diente Stroh als Lagerstatt. Lebensmittel mußten
mitgebracht werden; daß vom Evangelischen Hilfswerk zusätzliche
Rationen zur Verfügung gestellt wurden, war eine besondere
Freude. Die rechtliche Unsicherheit hatten die Teilnehmer gar
nicht im Blick; sie war aber für die Verantwortlichen eine
zusätzliche Belastung. Und doch: Inmitten all dieser heute
unvorstellbar primitiven Verhältnisse erlebten viele Teilnehmer
gesegnete und glückliche Tage der Gemeinschaft unter Gottes Wort
und miteinander. PW war während der ganzen Sommerferien von
einer Rüstzeit zur anderen im Einsatz. Im Sommer 1948 hatte er
mich gebeten, ihm nach der Rüstzeit, die ich für meinen
Jungenkreis hielt, zu helfen. Das tat ich gerne und war mehr als
drei Wochen an ganz verschiedenen Stellen immer für etwa sechs
Tage mit ihm unterwegs. Aber dann ging es nicht mehr; meine
Kräfte waren am Ende. Für die letzte Rüstzeit dieses Sommers
mußte ich ihm absagen. Schon im Frühjahr 1948 war ich einmal
zusammengeklappt, weil die Anforderungen in der Schule und der
pausenlose Einsatz in der Jugendarbeit über meine
gesundheitlichen Möglichkeiten ging. Die Lebensmittelrationen
waren klein und die Kräfte schnell am Ende. Sofort war der gute
PW zur Stelle und brachte mir vom Hilfswerk einige wichtige
zusätzliche Lebensmittel. Nach ein paar ruhigen Tagen im Bett
ging es im alten Rhytmus weiter.
Vom 1.Januar bis zum
1.Oktober 1949 habe ich das einzige Mal in meinem Leben ein
Tagebuch geschrieben, es all die Jahre bewußt aufbewahrt und
jetzt nach fünfzig Jahren zum ersten Mal wieder gelesen.
Literarischen Wert besitzt es nicht, aber es enthält viele
interessante Informationen über die letzten Monate meiner
Schulzeit und über die glücklichen Monate eines "mulus", des
jungen Mannes zwischen Schulabgang und Studienbeginn. Es zeigt
auch, mit welchem Eifer und Einsatz der Schreiber in der
evangelischen Jugendarbeit lebte. Betroffen bin ich davon, wie
oft die Sorge vor einem zukünftigen Krieg in den Zeilen eines
19jährigen anklingt. Die politischen Ereignisse um die Zukunft
der deutschen Einheit werden mit Hoffnung verfolgt, aber die
Enttäuschung über die ideologischen Verfestigungen auf allen
Gebieten überwiegt aufgrund von täglichen Erfahrungen. Die
Schwierigkeiten, seinen Glauben ungehindert zu leben, nahmen
ständig zu.Immer wieder klingt die Befürchtung an, es werde zu
einer schweren, gewaltsamen Auseinandersetzung um den Glauben
kommen. Doch gingen wir unseren Weg - dann und wann sicherlich
ein wenig bange, aber in der Grundhaltung ganz fröhlich und
voller Zuversicht auf Gottes Nähe und Macht.
In diesen entscheidenden
Jahren ist für mich die Weggemeinschaft mit Friedrich Franz
Wellingerhof von großer Bedeutung gewesen. Er hat vielen von uns
jungen Leuten damals einen persönlichen Zugang zum Wort Gottes
und zum Glauben an Jesus Christus vermittelt. Ruhig, aber
zielstrebig nahm er uns in die Verantwortung und leitete uns
ganz praktisch und vor allem geistlich zum Dienst in der Jungen
Gemeinde an. Vielfältig ließ er uns die Gemeinschaft unter dem
Wort in der Kirche erfahren. Daß Glaube mit Freude und Phantasie
genauso zusammengehört wie mit Verantwortung und Einsatz aller
Kräfte, lebte er mit Wort und Tat vor und steckte uns damit
kreativ an. Er war beides: ein großer Stratege der kirchlichen
Jugendarbeit wie ein ganz praktischer Leiter von Gruppen und
Großveranstaltungen. Besonders Jungen wußte er zu begeistern,
ohne sich selbst dabei zu verausgaben. Seine Gaben kamen in der
großen Zeit der Jungen Gemeinde von 1947 bis 1953 voll zum Zuge.
Dieser Dienst ist bis heute bei vielen, die ihn erlebt haben,
unvergessen. Es blieb ihm freilich die herbe Enttäuschung des
Rückgangs der Arbeit nach 1953 nicht erspart. Er hat mit immer
neuer Phantasie auch dann gute Wege zu finden gewußt. Wir haben
ihn verehrt, wir haben ihn geliebt.